Carte Blanche – Blankovollmacht

Vernissage: 25. März 2022 – 18.00 Uhr
Ausstellung: 25.3.2022 bis 4.5.2022

Bilder der Installation im Konzepthaus Laboratorium:

Zehn Entwürfe vom Architekten, Designer, Philosoph und Künstler Antonio Scarponi, welche ein Manifest für die «komplizierte» Einfachheit und Poesie der Entwurfstätigkeit sind.

Aspekte der Architektur- und Baukunstgeschichte, der Avantgarde-Kunstbewegung des frühen 20. Jahrhunderts und der Tradition des Geschichtenerzählens im Design flossen in die Gestaltungsarbeit ein.

Die Entwürfe entstanden für einen mobilen Pavillon anlässlich der Biennale in Venedig, mit dem Thema, von der Mafia beschlagnahmte Ländereien in Süditalien in die Legalität zurückzuführen. Leider wurde der Pavillon nie realisiert.

Konzepthaus Laboratorium und Antonio Scarponi haben eine limitierte Serie eines Teils der zehn Wohnmöbel produziert und stellen diese anlässlich einer spektakulär gestalteten Ausstellung im Konzepthaus in Thun vor.

Die Entwürfe können selbst anhand der kunstvollen Zeichnungen produziert werden, als Baukasten im Konzepthaus bestellt werden oder fertig zusammengebaut als limitierte Edition, signiert vom Designer und Künstler, erworben werden.

The innocent Kollektion


Die unschuldige Kollektion hat das Schicksal ein Rebell zu sein. Sie wurde so konzipiert und entworfen, dass ein Bauer einen Anwalt weit draußen auf dem sizilianischen Land trifft –  vielleicht im Schatten eines Olivenbaums – um das Ende der Mafia-Aktivitäten festzustellen und Legalität zu proklamieren.

Diese Kollektion aus zehn Wohnmöbel ist der Ausgangspunkt des Entwurfsprozesses eines mobilen Pavillons, der von einer gemeinnützigen Organisation im Auftrag der Architekturbiennale Venedig betrieben wird, um die von der Mafia beschlagnahmten Ländereien in Süditalien zu reaktivieren und legalisieren, was jedoch nie realisiert wurde.

In seiner unschuldigen Einfachheit beschwört die Kollektion den lyrischen Geist von Freiheit und Rebellion herauf. Es ist eine Möbelkollektion, die die Einfachheit des Lebens widerspiegelt.

Der unschuldige Stuhl und andere Geschichten über Leben, Freiheit und Design

Zehn Wohnobjekte, ein Manifest
Antonio Scarponi

Zwei Menschen treffen sich in einer verlassenen Landschaft im Schatten eines Olivenbaums, oder vielleicht im Schatten eines rostigen Blechs. Es sind ein Bauer und ein Rechtsanwalt. Der Bauer braucht Unterstützung: der Anwalt arbeitet ehrenamtlich für eine Organisation, die von der Mafia beschlagnahmtes Land rehabilitiert, und er berät den Bauern, wie er vorgehen kann, um das Land zur Bewirtschaftung zu legalisieren.

Diese Szene ist erfunden, sie entspringt meiner Fantasie. Aber es ist ein klares Bild, das vor meinem inneren Auge entstand, während ich an einem mobilen Pavillon arbeitete, der Raum für diese Art von Begegnungen in Süditalien bieten könnte. Die Begegnung und die Beziehung stellte ich mir zwischen zwei Männern oder zwei mutigen Frauen vor, die sich gegen ihr Schicksal auflehnen.

Ich suchte nach der symbolischen Form eines Stuhls in diesem Bild, den ich irgendwie zeichnen musste, und wo sich diese beiden Männer oder diese beiden Frauen begegnen würden.

So wurde der MAFIA CHAIR geboren, und mit ihm auch das Manifest der zehn Objekte, als eine symbolische Form der Rebellion gegen das eigene Schicksal. Sie stehen symbolisch dafür, die Welt nicht so hinzunehmen, wie sie ist, sondern den einen kleinen Teil von ihr, der in unserer Hand liegt, zu verändern. Um so auf einfache, robuste und direkte Weise – vielleicht wie in einer verlassenen Landschaft – unsere eigene Art, in der Welt zu sein, zu erbauen: mittels zehn Objekten, die Geschichten vom Leben, von Freiheit und Design erzählen. Dies als Anstoss, die Realität der Welt abzulehnen, um sie anschliessend zu verändern.

Ich glaube, dass Design eine Form der Erzählung ist. Ihre Stärke ist es, die Materie in der Vorstellung der Menschen zum Leben zu erwecken, und diese Materie mit den Menschen in Beziehung zu bringen. Dadurch ist Design in der Lage, Industrien, Arbeiter und Handwerker zu bewegen, CEOs zu überzeugen, Investoren anzuziehen, Marktwirtschaften zu schaffen, Bräuche zu verändern und Traditionen zu erneuern. Manchmal ist Design auch in der Lage, gesellschaftliche Veränderungen auszulösen und zu gestalten, kurz gesagt, kleine Teile der Welt zu verändern.

Die vorliegende Sammlung von Objekten entspringt einer Idee von Design, das uns verwandeln kann. Einem Verständnis von Design, das nicht Konsumgüter und Produkte, sondern Wissen produziert. Jede Erzählung baut eine intime Beziehung zu demjenigen auf, der ihr zuhört. Die Zeichnungen, Diagramme und Schemata erzählen eine Poesie des Lebens anhand von Objekten, die jede/r selbst bauen kann, wenn er/sie will.

Andererseits ist ein in Marmor eingraviertes Gedicht nicht von höherem Wert als ein Gedicht, das auf die Rückseite eines Buchdeckels, auf Seiten eines zerknitterten Notizbuchs oder auf die Rückseite einer alten Quittung gekritzelt ist. Denn es ist nicht der materielle Wert, der den universellen Wert der Poesie bestimmt. Im Gegenteil, ich glaube, dass die Beschaffenheit eines armen Materials von der Dringlichkeit und Zerbrechlichkeit der Poesie in ihrer ganzen Unermesslichkeit erzählt, von ihrem «Hier und Jetzt», in dem sie lebt und den Gegebenheiten, in denen sie sich ereignet und entsteht.

Dies gilt ebenso für die besondere Poesie der Objekte, auf die wir uns mit einem Wort beziehen, das auf eine lange Tradition zurückblicken kann, und das als Substantiv, als

Adjektiv und manchmal als Verb verwendet wird: «Design». Es steht auf eine etwas vage, aber gleichzeitig aussagekräftige Weise für jene Kunstform, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts mit der sogenannten industriellen Revolution entstand; die aber als Kunst so alt ist wie das Feuer, und die ich gerne als die Kunst des

Planens und Entwerfens bezeichne, oder als die Kunst, Menschen, Dinge und die Beziehungen zwischen ihnen zu verändern.

Dieser Hypothese entsprechend suchte ich nach dem ärmsten und am leichtesten zu bearbeitenden Baumaterial, aus dem sich ein Objekt zum Wohnen herstellen lässt. Ein Holzprofil, das in kurzer Zeit wächst, leicht, modular, sogar ein wenig krumm, und dessen unterer und oberer Teil verbunden sind, um komplexe Strukturen zu bauen. Ein bescheidenes Material, aus dem Hausdächer, Trennwände und Kellertüren gebaut werden, ebenso wie Illusionen und Hoffnungen von Theaterbühnen.

Für mich ist dieser narrative Zugang zum Projekt, zum Material und zu den Beziehungen zwischen den Dingen eine Form der Selbstbefreiung und der Rebellion, die zu den Archetypen des Designs gehört und die sich meines Erachtens auf die grosse Tradition der Architekturtraktate zurückführen lässt, die mit dem ältesten überlieferten Dokument dieser Art, dem De Architettura von Marcus Vitruvius Pollonius aus der Zeit zwischen 15 und 30 v. Chr. ihren Anfang nahm. Vitruv beschreibt die Architektur als die Kunst des Bauens und als eine Form des Prozesses der menschlichen Zivilisation, der sich durch sie vollzieht.

In der modernen Zeit hingegen sehe ich Verbindungen zu den Erfahrungen von Thoreau und seinem Walden, dem Leben in den Wäldern, als einer frühen Form des antikapitalistischen Protests. Oder zum Pionierprojekt von Louise Brigham und ihrem Box Furniture (1910), in dem sie Anleitungen für die Herstellung von Möbeln aus Transportkisten für norwegische Bergarbeiter aufzeigt. Oder zur frühen Avantgarde und dem Versuch des Künstlers Thayaht, die Gesellschaft in ein autarkes Gewand aus Hanfstoff zu kleiden, der damals von allen Bauern Italiens hergestellt und gewebt wurde. Die TuTa (1918), die für das Motto «tout-de-même», «alle gleich», stand, war ein Unisex-Kleidungsstück für alle Aktivitäten und alle Jahreszeiten, das anhand der von Thayath gezeichneten Papiermustern und präzisen Anweisungen, die damals mit den Zeitungen verteilt wurden, selbst genäht werden konnte – hergestellt dank den grundlegenden handwerklichen Fähigkeiten in einer endlich modernen Welt, von jeglichem Schnickschnack befreit. Im Laufe des 20. Jahrhunderts folgten mehrere herausragende Arbeiten dieser Auffassung: Rietveld und seine selbst produzierten Stühle wie der Red and Blue Chair (1917), wie auch Enzo Mari und seine Autoprogettazione (1974), fast zeitgleich mit den Überlegungen von Papaneks Design for the Real World (1971), oder Yona Friedmans lebenslange Forschung und zahlreiche Bücher. Es liessen sich viele weitere Beispiele anführen. Mir geht es jedoch um eine Herangehensweise an Design und an die Kunst des Projektes, die von der Neuanpassung und Umwandlung von bereits Existierendem ausgeht, wie eine Art Readymade, das die ursprünglichen Funktionen der Objekte untergräbt und gegen ihre Bestimmung rebelliert.

Mafia Chair und andere Geschichten von Leben, Freiheit und Design umfasst eine Sammlung von zehn Wohnobjekten, die von jeder und jedem, überall, nach einigen wenigen von mir vorgeschlagenen Anleitungen hergestellt werden können. Es ist eine einfache Sammlung, die auf der Idee basiert, dass es kein Design für Reiche und Design für Arme, demokratisches und autoritäres Design, kritisches und unkritisches Design, engagiertes und unengagiertes Design, politisches und unpolitisches Design, nachhaltiges und nicht nachhaltiges Design gibt. Ich gehe davon aus, dass dies die wesentlichen Qualitäten sind, welche die Natur des Designs heute ausmachen, als poetische Form, die den Objekten eine Seele verleiht. Zehn Wohnobjekte zur Ausstattung des Bühnenbilds für unsere alltäglichen Dramen oder der Komödien, deren Autor jeder von uns sein kann. Sie können als Orientierungspunkte genutzt werden.



Dr.phil. Antonio Scarponi Architekt – Designer – Professor zhkd

Antonio ist Italiener und studierte an der Cooper Union New York und in Venedig. Er wohnt in Zürich und ist founder of Conceptual Devices. 2014 haben wir für designarchiv mit ihm das Projekt Hotello realisiert.

https://www.conceptualdevices.com/

Links:

>> Thayaht
>> Marcus Vitruvius Pollione